




In ihrer vierten Einzelausstellung in der Galerie Anahita Sadighi zeigt die Künstlerin Wenxin Zheng Malerei, die eine neue Richtung in ihrem Schaffen ankündigt. Der Ausstellungstitel Glow bezieht sich auf den altchinesischen Text Das Geheimnis der Goldenen Blüte und offenbart ein neu erwachtes Interesse an altchinesischem Wissen. Der Text wurde wie das I Ging, das Buch der Wandlungen, vor etwa hundert Jahren vom deutschen Sinologen Richard Wilhelm ins Deutsche übertragen und damals mit einem Kommentar von C.G. Jung herausgegeben. Durch die in viele andere Sprachen übersetzten Ausgaben erlangten die beiden Schriften große Verbreitung.
Im Sommer 2023 verbrachte die Künstlerin drei Monate im Gastatelier der Stiftung Sitterwerk in der Schweiz. Die Gebäude der Stiftung liegen außerhalb der Stadt St. Gallen in einem tiefen Tal direkt am Fluss. Die geradezu idyllische, abgeschiedene Umgebung, wo sich zugleich mit der Kunstgiesserei ein internationales Kunstzentrum befindet, bewirkte in Wenxin Zhengs Schaffen eine bemerkenswerte Wendung. Weit weg von ihrer Heimat, der Millionenstadt Hangzhou, fand die Künstlerin einen neuen Zugang zur traditionellen, Jahrtausende alten chinesischen Philosophie, insbesondere zum I Ging.
Es entstanden Zeichnungen und großformatige Gemälde, in die sie traditionelle Vorstellungen ebenso integriert wie ihre Eindrücke, Begegnungen und Erlebnisse vor Ort sowie aktuelle Ereignisse und News aus den Sozialen Medien. Die neuen Gemälde sind von sehr unterschiedlichen Stimmungen geprägt, die teilweise auch innerhalb eines Bildes wechseln können. Vielschichtigkeit im formalen und inhaltlichen Sinn prägt Wenxin Zhengs Malerei und vieles schwebt ambivalent zwischen Figuration und Abstraktion. Im Malprozess transformiert die Künstlerin die äußeren Eindrücke durch den Filter ihrer eigenen Befindlichkeit zu Bildern, die gleichermaßen ihrer Reflektion wie ihrer Imagination entspringen.
Während ihrer Residency schenkte ihr ein Mann, der seit Jahren am Fluss Gold sucht und mit dem sie philosophische Gespräche führte, einen kleinen, stark ausgewaschenen Stein. Dieser Stein wog zufälligerweise genau so viel (19 Gramm), wie der Mann in den Jahren an Gold gefunden hat. Diese erstaunliche Koinzidenz und die außergewöhnliche Form des Steins wurden zur Inspiration für erste Zeichnungen. Dabei ist es in erster Linie die Leere der konkaven Stellen, der Wenxin Zhengs Aufmerksamkeit gilt, im materiellen wie im philosophischen Sinn. Beruhend auf diesen Entwürfen schuf die Malerin in den letzten Monaten Gemälde, in denen menschliche Figuren mit Steinen und Vegetabilem zu verschmelzen scheinen.
Im Zentrum der Ausstellung stehen fünf großformatige Gemälde, deren Titel nach fünf der acht Zeichen (Trigramme) benannt sind, auf denen das I Ging beruht: Himmel, Erde, Feuer, Donner und Wind. Sie stehen für verschiedene Prinzipien des Universums, denen weitere Eigenschaften zugeordnet werden: dem Himmel die Stärke und das Schöpferische, der Erde das Empfangende und Hingebende, dem Donner die Bewegung und das Erregende, dem Feuer das Haftende und Helle, dem Wind das Sanfte und Eindringende.
Die Gemälde bringen je eine Grundstimmung zum Ausdruck, die im weitesten Sinn den im Titel angedeuteten Zeichen und ihren Qualitäten entsprechen. Wenxin Zheng geht es jedoch nicht darum, das Gedankengut des I Ging bildnerisch zu interpretieren. Vielmehr wählt sie einen persönlichen Zugang zu diesen Jahrtausende alten Überlieferungen. Ihre Motive findet sie in eigenen Erlebnissen und Beobachtungen, in Sozialen Medien sowie vermehrt in Natureindrücken. Ihrer Malweise der Fragmentierung und Schichtung bleibt die Malerin treu, doch neu erhalten die einzelnen Bildelemente mehr Raum, sowohl im inhaltlichen Sinn als Landschaft, wie auch formal in der Komposition. So vermitteln die beiden Bilder Wind und Heaven eine Stimmung von Harmonie, Frieden und Glück, wo sich der Mensch im Einklang mit der Natur bewegt. In anderen Gemälden wie Thunder oder Fire drohen jedoch Unheil, Zerstörung und Gewalt über die Welt hereinzubrechen.
In Wenxin Zhengs neuen Gemälden berühren sich Ost und West, Tradition und Aktualität. Der europäische Individualismus und die Psychologie des Unbewussten verbinden sich mit Jahrtausende alten Vorstellungen über die Verbundenheit von Mensch und Universum. Und die Suche nach dem richtigen Weg im I Ging erhält angesichts des aktuellen Weltgeschehens eine Dringlichkeit, die weit über das Persönliche hinausgeht.
Corinne Schatz, St. Gallen, April 2024


In ihren neueren Arbeiten verbindet sie östliche und westliche Elemente sowie Tradition und Gegenwart. Dabei rücken jahrhundertealte Vorstellungen über die Verbundenheit von Mensch und Universum in den Fokus und werden neu kontextualisiert.
